2983 Seiten über M
In der Hoffnung, eine eingängige Lektüre zu finden, durchstöberte ich in Italien die Regale einer Buchhandlung. Nichts wollte mir zusagen. Zu guter Letzt nahm ich den Band "Gli ultimi giorni dell'Europa" (auf Deutsch: "Die letzten Tage von Europa") von Antonio Scurati in die Hand. Es ist der dritte von fünf Bänden über M - Benito Mussolini. Nach wie vor genießt der faschistische Diktator in breiten Kreisen Italiens Anerkennung und Bewunderung.
Mir war bekannt, dass es dieses monumentale Werk Scuratis gab. Aber ich hatte mir gesagt, nein, das willst du nicht lesen. Fünf Bände über das Innenleben eines aufgeblasenen und doch erbärmlich schwachen Charakters, der Leid und Zerstörung über Italien und viele seiner mediterranen Nachbarn brachte? Dann begann ich etwas zu lesen. Der Band behandelt die Zeit von 1938 bis zum Kriegseintritt an der Seite Hitlers im Juni 1940. Eigentlich weiß ich nichts über die Geschichte Italiens in dieser Zeit, sagte ich mir. Also begann ich das Buch zu lesen. Es folgten die übrigen Bände - ein Leseabenteuer von fast 3000 Seiten.
Als Roman bezeichnet Scurati sein Werk. Es steht in der Tradition des aufklärerischen Dokumentartheaters der 1960-er Jahre. Es will nicht belehren, sondern in der Erzählung Innenansichten und Motive der Protagonisten zeigen. Die Bände sind gut lesbar. Sie bestehen aus kurzen, datierten Szenen, in denen Protagonisten, aber auch Opfer und Gegenspieler, ihre Sicht wiedergeben. Gespiegelt wird jede dieser Episoden durch die Gegenüberstellung von Dokumenten. Keine der handelnden Personen, und mag sie noch so viele grausame Verbrechten begangen haben, wird dämonisiert, sondern vielmehr als 'normal' geschildert.
Sprachmächtig erzählt Scurati, ohne dabei von den Fakten abzuweichen, Aufstieg und Fall des Faschismus. Theoretische Erklärungen bietet er keine. An vielen Stellen scheint jedoch durch, was der Kern des Faschismus war und ist: Anmaßung, Ausgrenzung und Gewalt.
Und damit sind wir bei der Aktualität der historischen Erzählung. In Italien waren die Bücher Scuratis ein großer Erfolg. Die zwei Jahrzehnte des Faschismus waren über weite Strecken auch die Zeiten von Bürgerkriegen. Zu lange war dies, wie auch die Verbrechen Italiens in Nord- und Ostafrika, verdrängt worden. In der öffentlichen Betrachtung überwog ein heroisierter Widerstand, der das italienische Volk in erster Linie als Opfer vor allem Deutschlands sah.
