Cappuccino

Als der altväterliche Chef den gerade in Rom angekommene Doktoranden mit auf Dienstreise nahm, sozialisierte er diesen mit harschen Verhaltensregeln: „Einen Cappuccino trinkt man nur vormittags. Niemals einen Cappuccino nachmittags bestellen.“

Ich habe mich daran gehalten, denn ich wollte nicht als der Banause erkannt werden, der aus dem Land kommt, in dem – nach Meinung vieler Italiener – der Küchenzettel von Sauerkraut und fetten Würsten bestimmt wird.

Später habe ich mich gefragt, warum diese Maxime? Schließlich bestellen die Menschen in Deutschland Cappuccino zu jeder Tages- und Nachtzeit, ohne sichtbaren Schaden daran zu nehmen.

Der Grund könnte in dem Gebot zur Temperantia, zur Mäßigung, liegen, das die Menschen von der Antike bis zur christlichen Lehre von heute leiten soll. Die traditionellen Essgewohnheiten der Italiener sind davon bestimmt, auch wenn dies weniger von bewussten medizinischen Erwägungen als vom Mangel an teuren Lebensmitteln wie Fleisch getragen wird. Pasta oder Reis füllen den Magen, dann gibt es relativ kleine Portionen an Fleisch oder Fisch mit Gemüse oder Salat für Proteine, Vitamine und Ballaststoffe. Zum Essen trinkt man Wein, und ist der Teller leer, bleibt die Flasche tabu, auch wenn sich noch ein Rest darin befindet. In der Öffentlichkeit, betrunken zu sein, bedeutet Ansehensverlust, und auch das hat etwas mit Temperantia zu tun.

Mir ist klar, dass sich mit dem heutigen Überfluss an Nahrungsmitteln, mit Fastfood und mehr als fürsorglichen Eltern und Großeltern vieles geändert hat. Aber der Augenschein zeigt, dass es in Italien weniger übergewichtige Menschen als zum Beispiel in Deutschland gibt, und das hat sicher etwas mit Temperantia zu tun.

Doch zurück zum Cappuccino am Vormittag: Die geschäumte Milch hat Volumen und füllt den Magen bis zum Mittag. Würde man nach dem Mittagessen nochmals Cappuccino trinken, wäre das wie zweimal beim Nachtisch zuschlagen. Und wer der Völlerei frönt, für den hat schon Dante die Qualen in der tiefsten Hölle illustriert.

‚Cappuccino‘ bedeutet übersetzt ‚Kapuziner‘, und das verweist auf Österreich. Ein Kapuziner besteht aus einer kleinen Menge starken Kaffees mit ein wenig Sahne, was die hellbraune Farbe einer Kapuzinerkutte ergibt. Österreichisches Militär hätte demnach den Kapuziner bzw. Cappuccino nach Italien gebracht, und da sich geschlagene Sahne ohne Kühlmöglichkeiten in der Hitze nicht hielt, sei die Sahne durch Milch ersetzt worden.

Jeder Italiener würde jedoch behaupten, der Cappuccino sei eine Errungenschaft italienischer Lebensart und Zivilisation. Doch auch das ist richtig, denn seine heutige Variante bekam der Cappuccino erst, als ab 1906 die mit Dampfdruck betriebenen Espressomaschinen aufkamen.