Italien lieben?
“Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau; fertig.” So der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann im Jahre 1969. Wie auch soll man ein Land lieben, dass vom Norden nach Süden, vom Mont Blanc bis Sizilien, 1200 Kilometer misst, 60 Millionen Einwohner, darunter viele Migranten, zählt, und dass, bedingt durch die späte Nationenbildung, viele regionale Besonderheiten aufweist, die unterschiedlicher nicht sein können.
Aber von Interesse kann man sprechen. Ein Interesse kann man biographisch begründen. Bei manchen wird es spontan geweckt, bei mir hat es lange gekeimt.
In meiner Kindheit gab es keine Ausländer. Natürlich wusste ich, dass es andere Kontinente und Länder gab, auch kannte ich alle ihre Hauptstädte. Als ich zehn Jahre alt war, sah ich erstmals Menschen, die aus anderen Ländern kamen. Es waren amerikanische Panzerkolonnen, die durch das Dorf ratterten, Jeeps mit heruntergebogenen Antennen und Militärpolizisten mit weißem Helm und weißem Koppel, die die Kreuzungen sperrten.
Dann kam es auch zu wirklichen Begegnungen. In der Nähe des Dorfes biwackierten amerikanische Soldaten, und ich ging hin. Baumlange Schwarze boten dem Zehnjährigen Bier, Schokolade und Kekse an. Dieser wiederum versuchte sein rudimentäres Englisch und blieb, bis heute, beeindruckt von den im winterlichen Schnee beheizten Zelten.
In dieser Zeit sah ich zum ersten Mal Italiener. Mein Schulweg ins Gymnasium dauerte zwei Stunden; das erste Stück musste ich um sechs Uhr morgens mit dem Fahrrad bis zum vier Kilometer entfernten Bahnhof zurücklegen. Auf halber Strecke gab es ein Barackenlager sogenannter Gastarbeiter aus Italien. Es waren kleine, hagere Männer mit dunkler Haut und schwarzen Haaren, die zu Fuß in die einige Kilometer entfernt liegende Fabrik gingen. Sie sahen fremdländisch aus, und ich hatte Angst vor ihnen.
Die Angst kam auch von Älteren, die mir sagten, jeder Italiener trage ein Messer bei sich. Sie gaben mir den Rat, den ich aber nicht befolgte, wenn ich an ihnen vorbeiführe, ganz laut “porco dio” und “madonna puttana” zu rufen, um dann so schnell wie es geht, in die Pedale zu treten.
Als ich auf die Zwanzig zuging, sah ich wieder Italiener. Wir waren mittlerweile vom Dorf in die Stadt gezogen. Die immer noch Gastarbeiter trafen sich sonntags in der Bahnhofshalle. Dort war geheizt, und das Geräusch der Züge vermittelte die Illusion, mit der Heimat verbunden zu sein. In den Zügen, die von der Schweiz heraufkamen, gab es auch Italiener. Je nachdem woher sie kamen, waren sie schon seit 24 und mehr Stunden unterwegs. Sie aßen und tranken Rotwein aus Korbflaschen, boten davon an und stellten anzügliche Fragen.
Eine Pizzeria gab es in unserer Stadt. Mit neunzehn aß ich dort meine erste Pizza und trank mein erstes Glas Chianti. Die Pizza war so überwältigend, dass ich danach zu Hause Pizza buk, um die eintönige Küche meiner Mutter aufzulockern.
Ich muss dazwischen schieben, dass unsere Familie nie in Urlaub fuhr. Die Fahrt - damals noch - über den Gotthard zum Teutonengrill: das kannte ich nicht. Die Sommerferien verbrachte ich in der Fabrik, denn meiner Mutter war die Vorstellung unerträglich, ich würde sechs Wochen zu Hause herumlungern.
Doch das Thema Italien blieb präsent. Da waren die Fernsehbeiträge Franca Managnis. Mit Charme und Entschiedenheit brachte sie den Deutschen ein Land näher, in das diese zwar gerne reisten, von dem sie aber nichts wussten. Den Italienern gab sie eine Stimme in Deutschland. Fuhren die sogenannten Gastarbeiter für die Wahlen mit dem Zug nach Hause, konnten diese im deutschen Fernsehen sagen, dass sie kommunistisch wählen würden, während zur gleichen Zeit die wenigen Kommunisten in der Bundesrepublik mit Berufsverbot verfolgt wurden.
Als ich dann zum Studium ins geteilte Berlin ging, war das wie ein Schritt in ein anderes Land. Weiter weg von zu Hause ging nicht. Die Jahre vergingen. Ich war mit mir und den Büchern beschäftigt. Doch etwas begann sich zu ändern. Ich kannte einige Romanisten, und die Literatur und die Philosophie Frankreichs hatten mich schon immer interessiert. Jetzt lernte ich Französisch.
Mitte der 70-er Jahre war dann Italien in Studentenkreisen populär geworden. Es war die Zeit des Eurokommunismus, eines dritten Wegs zwischen Ost und West. Unvergesslich, wie der unbeugsame Enrico Berlinguer 1976 in Ost-Berlin aus dem Flugzeug stieg, um Breschniew, Honnecker und den anderen Betonköpfen die Meinung zu sagen.
Die Politik war Anlass für eine Schwärmerei voller schöner Bilder. “Wohin fährst du in Urlaub?” - “Nach Italien.” Und schon leuchteten die Augen der Umstehenden. Die Geographie war zweitrangig. Ich selbst wusste wenig davon. Ob das Leben in Trento, Rom oder Palermo das gleiche war, hätte ich nicht sagen können. Ungläubiges Erstaunen rief ein schon Fortgeschrittener hervor, der in der Pizzeria dem Kellner ein lautes “Il conto, per favore” zuwarf.
Die letzte Phase des Studiums wohnte ich dann mit zwei anderen Jungs zusammen, die beide Romanistik studierten. Und einer der beiden lernte als Hobby Russisch. Noch heute gehört es für mich zu den faszinierenden Begegnungen, dass jemand mitten im Kalten Krieg ohne jegliche Zweckbestimmung Russisch lernte. Die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert, und der Westen boykottierte wieder einmal ohne Ergebnis, und da fuhr mitten im Winter ein schmächtiger Berliner Student in drei Mäntel eingepackt im ungeheizten Zug nach Leningrad, um Russisch reden zu können. Der Russischdozent kam zu Besuch und erzählte von seiner Reise mit der Transsib. Wegen der verschiedenen Sprachen stieg er bei jedem Halt aus dem Zug und kaufte sich eine Zeitung. Immer kamen Franzosen und Russen zu Besuch. Von letzteren wussten wir, dass sie dem KGB angehörten oder zumindest nahestanden.
Neue Welten taten sich auf.
Mein Studium näherte sich dem Ende. In der Tretmühle eines Berufs zu verschwinden, konnte ich mir nicht vorstellen. Also beschloss ich, zu promovieren. Und ich wollte aus Berlin weg. Etwas Neues sollte kommen. Keine bloße Fortsetzung des Studiums. Und ich hatte mir Italien ausgesucht. Dort würde ich bei Null anfangen und mir etwas Neues erschließen können.
Einem meiner Professoren erzählte ich von meinem Wunsch, und er schrieb mir ein lobhudelndes Gutachten für eine Bewerbung um eine gut dotiertes, wenn auch zeitlich befristetes Plätzchen in Rom. Ich war mir sicher, dass es klappen würde. Ängste oder Unsicherheiten kannte ich damals nicht.
In der Zwischenzeit hatte ich an meiner Universität begonnen, Italienischkurse zu belegen. Der Unterricht war abgrundtief schlecht. Der Dozent las meist Zeitung und ließ uns im Sprachlabor Redewendungen und Sätzchen wiederholen, deren Sinn sich oft nicht erschloss. Ich besorgte mir Schallplatten von Adriano Celentano und anderen und dechiffrierte mit Genuss die Texte.
Ich wartete noch auf die mündlichen Abschlussprüfungen und fuhr nach Weihnachten zum ersten Mal mit einer studentischen Reisegruppe nach Rom; mit dem Zug von Berlin aus, Umsteigen in München, Dauer über 24 Stunden.
Meine bescheidenen Sprachkenntnisse konnte ich nun erstmals anwenden. Doch niemand korrigierte mich, auch wenn ich im Hotel beharrlich nach “il chiave” verlangte. Und natürlich wurde ich krank, wie so viele Nordlichter, die sich zwischen südlicher Wintersonne und steinernen kalten Schatten bewegen. Wie später auch, eroberte ich Rom zu Fuß, und ich sah viel. Ohne die Touristenmassen, die heute oft den Blick verstellen.
Um Ostern herum - ich wartete immer noch auf die Prüfungstermin - fuhr ich wieder mit dem Zug nach Italien. Dieses Mal bis Florenz, von wo aus ich dann die Städte der Toskana besuchte. Obwohl meine Sprachkenntnisse sicher etwas besser geworden waren, sprach der Kellner mich in Florenz auf Deutsch an.
Man sah und sieht sofort, woher ich komme. Auch wenn ich - wider Willen - zu ihnen gehörte, lernte ich dann später Teutonen auf den ersten Blick zu erkennen. Stümperhafter Haarschnitt, geschmacklose und schlecht sitzende Kleidung - kein Römer wäre so auf die Straße gegangen.
Meine Abschlussprüfungen waren vorüber. Mit einer körperlich spürbaren Erleichterung hatte ich alle Bücher in die Bibliothek zurückgebracht. Und wieder ging es nach Rom. Dieses Mal mit dem Flugzeug: Mit der ungarischen Fluggesellschaft Malev von Ost-Berlin aus, mit Zwischenlandung in Budapest, nach Rom.
Dort lernte ich das Institut, in dem ich die nächste Zeit verbringen würde, und die künftigen Kollegen kennen. Die Wohnungsfrage konnte ich klären. Meine Sprachkenntnisse waren immer noch miserabel. Wollte ich telefonieren, und es meldete sich jemand mit einem einzigen langen italienischen Satz, in dem ich keine Wörter und Absätze unterscheiden konnte, fiel mir vor Schreck der Telefonhörer aus der Hand.
Nach Berlin zurückgekehrt, kaufte ich mir mein erstes Auto. 6800 DM für einen gebrauchten Golf. Schließlich wollte ich das Land kennenlernen und nicht nur zu Fuß in Rom unterwegs sein. Meine Habseligkeiten, vor allem Bücher, brachte ich zu meinen Eltern, und dann ging es los.
Die Zeit in Rom habe ich später immer als die schönste und interessanteste in meinem Leben bezeichnet. Wegen der Sprache waren die ersten Monate schwierig. Jeden Morgen kaufte ich mir die 'Repubblica' und ackerte sie mit dem Wörterbuch von vorne nach hinten durch. Manches Mal dachte ich, ich würde es nicht schaffen. Aber dann begann ich irgendwann auf Italienisch zu träumen. Und da hatte ich es geschafft. Die Arbeit an der Dissertation ging gut voran. Ich lernte interessante Menschen und Ort kennen, wurde eingeladen und mitgenommen, kurzum, ich fühlte mich akzeptiert.
Einige wenige unangenehme Begegnungen gab es auch. Einmal meinte jemand, mich mit dem Vornamen ‘Adolf’ rufen zu müssen, andere Male war ich der ‘reiche Deutsche’. Aber wie gesagt, das waren Ausnahmen, und die Herkunft der Vorurteile war mir natürlich bekannt. Viel häufiger begenete ich der umgekehrten Diskriminierung. Die Italiener schimpften über ihr eigenes Land, aber der Deutsche, der stand für Präzision, Zuverlässigkeit usw. Damals sprach man in Italien vom ‘Modell Deutschland’. Tempi passati.
Gerne wäre ich in Rom geblieben. Aber Arbeitsmöglichkeiten, gerade für Ausländer, gab es eigentlich nicht. In Rom hatte der Frühling begonnen, und ich musste wieder in das regengraue, kalte Berlin zurück; keine Landschaften mehr, nur die Hier-komme-icke-wa-Mentalität mit ihren Rippenstößen. Mir liefen die Tränen über die Wangen.
Die folgenden vier Jahrzehnte waren von den Wechselfällen im Beruf bestimmt. Des öfteren schmiedete ich Pläne, um wieder in Italien zu leben. Einmal bewarb ich mich mit politischer Protektion um eine Dozentenstelle in einer Bildungseinrichtung. Deren Leiter beschied mich mit dem Satz “In unserer Stadt will niemand etwas von einem Deutschen lernen.”
Es sollte anders kommen. Ob besser oder schlechter, wer kann das sagen? Das Interesse an Italien blieb, auch wenn es seit Berlusconi spürbar erkaltete. Natürlich gab es auch vor über vierzig Jahren in Italien Dinge, die mir nicht gefielen. Heute gibt es sicher mehr davon, aber das hängt vielleicht auch mit meinem Lebensalter zusammen; ich lasse mich nicht mehr so leicht vom schönen Schein korrumpieren.
Ich habe mir die Aufgabe gestellt, das Land mit seiner wechselvollen Geschichte neu kennenzulernen. Sicher kann das nur punktuell gelingen. Für mich wird es interessant sein. Ich hoffe, auch für andere.
Um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Italien lieben? Nein. Sich etwas Neues erschließen, Erfahrungen sammeln? Ja!


